»Kurz nachdem ich aus Rumänien kam, war ich viel unterwegs. Ich wollte mich bei Freunden melden und suchte in den Orten, wo ich gerade war, nach Postkarten. Aber auf den schwarz-weißen Karten standen dümmliche Sprüche, die witzig sein wollten. Und die Ansichtskarten hatten so gräßlich mißratene Farben. Schon der Himmel war auf allen ein dickes Blau, die Bäume ein dickes Grün, die Dächer ein dickes Rot.
Eines Tages kaufte ich weiße Karteikarten, einen Klebestift und fing an, im Zug mit der Nagelschere aus der Zeitung ein Schwarzweiß-Bild und Wörter auszuschneiden. Auf eine Karte klebte ich dann das Bild und ein paar Wörter: DAS STÖRRISCHE WORT ALSO, oder WENN ES EINEN ORT WIRKLICH GIBT STREIFT ER DAS VERLANGEN, oder DIE TASCHENDIEBIN DIE BIN ICH.
Ich war verblüfft, weil einzelne Wörter eine ganze Geschichte erzählen. Weil ein paar Wörter etwas Rätselhaftes hergeben, weil das Wenige noch allerhand suggeriert - eine ganze Geschichte geht weiter, merkte ich, gerade weil sie nicht auf der Karte steht. Die Texte wurden immer länger. Es entstanden Geschichten aus verschiedenen Farben und Schrifttypen. Die Texte klingen, weil die unterschiedlichen Farben die Wörter tönen und die unterschiedliche Größen ihnenen ein unterschiedliche Stimme geben. Auf jeder Karte steigt der Text mit dem Bild auf eine Bühne, jede Karte inszeniert ihr kleines Theater. Vielleicht fing ich deshalb an, auch zu Hause Wörter auszuschneiden. Ich legte sie aufs Hackbrett, damit man sie, wenn wir essen wollen, aus der Küche wegtragen kann. Doch Wörter expandieren. Bald mußte ich einen großen Tisch für sie benutzen, einen quadratischen, um den man gehen kann, damit man sie alle sieht.
Zwei Jahre hatte ich diesen „Wörtertisch“. Die Wörter wurden immer mehr, sie lagen fingerdick und wurden mit der Zeit so staubig, dass ich sie nicht mehr benutzen konnte – der Staub verschmierte sich beim Kleben. Ich mußte tausende Wörter, von denen ich mich nicht trennen wollte, in den Mülleimer kehren. Außderdem waren das auch unzählige Stunden Arbeit, die ich mit dem Ausschneiden zugebracht hatte. Deshalb mußten die Wörter ab nun in „Wörterschränkchen“ mit Schubladen, die man schließen kann. Und in den Schränkchen mußten sie alphabetisch geordnet werden, damit ich weiß, wo ich das Wort finde, wenn ich es brauche. Von einer praktischen Notwendigkeit zur nächsten ist aus dem Ausschneiden und Sammeln von Wörtern eine regelrechte Werkstatt geworden. Denn bald gab es dann auch noch eine Schublade für Eigennamen, eine für Artikel, eine für Präpositionen.
Je länger ich mit den Wörtern arbeitete, um so länger wurden die geklebten Texte. Es ist für mich mittlerweile selbstverständlich mit gefundenen Wörtern zu schreiben. Weil sie aus ganz verschiedenen Zeitschriften kommen, macht ihre Unterschiedlichkeit die Texte sinnlich. Es ist der intensivste Kontakt mit Sprache, weil man jedes Wort einzeln anfassen muß. Überhaupt ist diese Arbeit sinnlich. Und sie ähnelt in vielem dem wirklichen Leben: der Zufall, durch den sich die Wörter treffen; mehr als die Größe der Karte ausmacht, geht nicht drauf; was einmal festgeklebt ist, kann man nicht mehr ändern. Manche Wörter habe ich nun seit Jahren und man sieht ihrem Papier an, dass sie alt geworden sind. Und wenn ich unterwegs bin, weiß ich, dass alle meine Wörter zu Hause auf mich warten. Manchmal glaube ich, dass auch sie in ihren Schubladen warten, wie ich an den Bahnhöfen, dass sie endlich in einen Text einsteigen dürfen. Andersmal glaube ich, dass sie froh sind, wieder mal davon gekommen zu sein und in der Schublade bei den andern bleiben zu dürfen. Denn eigentlich habe ich sie ja gerettet. Die ganze Kleberei hat womöglich mit meiner früheren Zeit in Rumänien zu tun. Dass es unzählige bunte Zeitschriften gibt, so gutes Papier, so viele Texte, die nur flüchtig gelesen und schon weggeschmissen werden – das alles kannte ich in Rumänien nicht. Es gab nur graue, nach Schmieröl stinkende Staatszeitungen, sonst nichts. Schon vom Umblättern kriegte man schwarze Finger.«
Herta Müller
Die verdichteten Geschichten - Worte wie Fundstücke, zu neuem Inhalt zusammen gesetzt und mit Bildmotiven kombiniert, sind ein literarisches und visuelles Werk von Herta Müller, das sich immer wieder neu entdecken lässt. Wenn Sie diesen Schatz erleben möchten, können Sie die Collagen als hochwertige Reproduktionen bei DrNice bestellen.